8. Kapitel 6

Mit diesem Entschluss hat meine technische Wirksamkeit in der Schweiz ihren zweiten Anfang genommen.
Nach der primitive Organisation dieser Bahn besorgt der Verwaltungsrat auch die gesamte Direktion, und so wurde mir sofort das Bauwesen zugeteilt. Ich arbeitete und suchte mich mit allen Zweigen des Bahnwesens bekannt zu machen. Ich wollte auch in diesem Fache meine übernommene Aufgabe gut erfüllen.
Es rückte die Zeit heran, an die Betriebsorganisation zu denken. Der Verwaltungsrat beschloss, die Grundsätze der Württembergischen Staatsbahn zu adoptieren, die damals als die Beste galt. Der damalige Präsident des Verwaltungsrates hielt unsere Schweizer noch nicht für geeignet, die gefährlichen Pflichten und den verantwortungsvollen Dienst zu besorgen, und beantragte, vorderhand Württemberger anzustellen. Gegen diesen Antrag wehrte ich mich sofort und mit mir die Mehrzahl der Kollegen. Etwas ärgerlich bemerkte darauf der Präsident: «Nun wohl, Herr Simon, so übernehmen Sie dann die Oberleitung über diese Mannschaft und des Betriebes». «Ja», antwortete ich, «eher als dass ausländische Angestellte den schweizerischen und heimatlichen Eisenbahnbetrieb besorgen sollen, übernehme ich, obwohl ungern, und mit Einheimischen». Der Verwaltungsrat fasste sofort einen diesbezüglichen Entschluss. Nach diesem Entschluss musste ich die Direktionsstelle, wenn auch ungern wie schon oben gesagt, annehmen, da mein Projekt, mich in Lausanne niederzulassen, mich immer noch beschäftigte. Mehr erfreut als ich war Freund Tschudi.
Herr Minister Knapp war damals oberster Chef der Württembergischen Staatsbahnen und sehr freundlich mir gegenüber. Durch ihn hatte ich die Gelegenheit, über sämtliche Betriebs- und Dienstzweige einen klaren Begriff zu erhalten; auch war er sehr bereitwillig, mir für einige Monate Herrn Misani, damaliger Bahnhofinspektor in Ulm, ein sehr tüchtiger Betriebsorganisator, zur Verfügung zu stellen.
In wenigen Monaten waren wir mit der ganzen Betriebsorganisation und deren ganzen Apparatur fertig. Herr Oberbaurat Etzel, Oberingenieur unserer Bahn, prüfte unsere Arbeit und erklärte sich ganz damit befriedigt. Bei diesem Anlass machten wir gegenseitig Bekanntschaft. Von da an verkehrten wir zwei miteinander und wurden gute Freunde.
1855, im Spätherbst, erfolgte mit grosser Feierlichkeit die Betriebseröffnung der ersten Strecke Winterthur-Wil, eine der frühesten in der Schweiz.
Meine Stellung als Betriebschef war mit dem ungeschulten Personal eine schwierige und verantwortungsvolle, und doch machte das Schweizer Betriebspersonal in kürzester Zeit derartige Fortschritte, dass dasselbe als Beispiel für freundliches und zuvorkommendes Wesen und für genauen Dienst beim gesamten Publikum Anerkennung fand, den Dienst also nach allgemeiner Ansicht gut versah.
Bald folgte die Eröffnung der Strecke Wil-Flawil (Flawil-Wilbahn) und schliesslich die ganze Strecke Winterthur-St. Gallen, als langersehnte Verbindung dieser zwei Gewerbestädte.
St. Gallen und Umgebung begrüssten mit ausserordentlichen Festivitäten die im Frühjahr 1856 eröffnete Bahn. Stadt, Staat und Bahnverwaltung ernannten ein Komitee unter meinem Präsidium und haben wirklich alles aufgeboten, um dem Fest einen patriotischen Charakter zu geben.
Um auch meinem angestrengt arbeitenden Betriebspersonal eine Annehmlichkeit zu bieten (als solche war sie damals anerkannt gewesen), veranlasste ich, durch Damen freiwillige Beiträge zu sammeln zur Gründung einer Unterstützungskasse der Bahnangestellten.
Bald darauf geschah die Fusion der St. Galler-Appenzeller, der Süd-Ost und der Glattal- Bahnen als «Vereinigte Schweizer Bahnen». Von da an bestand ein Verwaltungsrat und ein Direktionskomitee. Sonst wurde an der Organisation weiter nichts verändert. Ich war Mitglied des Veraltungsrats und Mitglied des Direktionskomitees und wurde Vorsitzender der Betriebsverwaltung.
Das heute bestehende Eisenbahnnetz der V.S.B. ist nach und nach zwischen 1856 und 1859 dem Betrieb übergeben worden. Die letzte Strecke war die romantische Malanserlinie.
Ich hatte sehr viel zu tun: sämtliche Betriebsdienstzweige mussten neu ausgerüstet und das Dienstpersonal in allen Zweigen gut unterrichtet werden. Auch auf der Bahnlinie war ich häufig, damit mein «Überallsein» stets Kontrolle üben konnte. Die Genugtuung hatte ich für mein Eintreten für das St. Gallische Betriebspersonal: meine Autorität wurde anerkannt und der Dienst prompt gemacht. Die schwachen Betriebsergebnisse waren ja anders nicht möglich, wenn man bedenken muss: Erstens die sukzessive Betriebseröffnung, zweitens die noch geringe Zahl der Industrien und der schwache Geschäftsgang, drittens und endlich die Sabbahn [?] veranlassten den Verwaltungsrat, sich mit dem Komitee der «Union Suisse» dahin zu verständigen, dass das französische System mit einem Generaldirektor an der Spitze, also die französische Organisation, eingeführt werden müsse.
Zum Generaldirektor wurde gewählt Herr Ingenieur Michel aus Paris und ich als Betriebschef. Ich lehnte ab.
Die neue Organisation trat 1859 in Kraft. Mit diesem Zeitpunkt fanden meine aktiven Dienste in den V.S.B. ihren Abschluss. Ich durfte mit Befriedigung darauf zurückblicken. Den V.S.B. bewahrte ich mein Interesse: ich blieb Mitglied des Verwaltungsrates.
Eine rührende Anerkennung wurde mir zuteil von einer Seite, von der ich es nicht erwartet hatte. Ich war allgemein bekannt als ein sehr strenger Chef, aber auch als gerecht in jeder Beziehung: wer seine Aufgabe pünktlich erfüllte, hatte eine Gratifikation oder eine Beförderung zu erwaren, wer nicht, seine Entlassung. Die Betriebsverwaltung der V.S.B. war so bekannt, dass unsere Angestellten von anderen Bahnen gesucht wurden.
Anlässlich meines Scheidens aus der Aktivität der V.S.B. erhielt ich als Zeichen der Anerkennung und Anhänglichkeit von sämtlichen Angestellten der Betreibe einen wertvollen, künstlerisch ausgestatteten Becher aus Silber geschenkt. Alle diese Angestellten bis zum Weichen- und Bahnwärter hinab, schafften diesen durch freiwillige Beiträge an und überreichten ihn mir mit einem sehr schmeichelhaften Schreiben.
Die Anstände der Regierungen, Behörden und auch der Privaten suchte ich persönlich zu regulieren, sogar mit der Regierung des Kantons Thurgau in Aadorf und Riggenbach. Herr Regierungsrat und Oberst Egloff hat oft mit grösster Anerkennung über mein Verhalten bei schwierigen Anlässen gesprochen. Ich erwähne das nur, weil ich auch in den Fall kam, zu grosse Präsentationen energisch abweisen zu müssen.
Zwei heitere Erlebnisse beim Eisenbahndienst will ich nicht übergehen.
Eines Tages telegraphierte mir der Fürst von Sigmaringen, der damals in seiner Villa Wartburg bei Thal-Rheineck den Herbst zubrachte, ich möchte in St. Gallen einen Extrazug bereithalten und ihn mit seinen Gästen an die Sitterbrücke begleiten. In diesem Extrazug Platz zu nehmen, lud mich der Fürst freundlich ein, und zwar in seinem Coupé. Er stellte mich dem damaligen Kronprinzen und der Kronprinzessin, später Kaiser und Kaiserin Friedrich von Deutschland, und dem Kronprinzen von England und anderen mehr vor. Kronprinz Friedrich gab mir eine Zigarre und Feuer dazu. Ich fing zu rauchen an und sagte dann ganz freimütig: «Königliche Hoheit, man hat Ihnen da schlechte Zigarren verkauft. Gestatten Sie mir, Ihnen eine der meinigen zu offerieren». Der englische und die anderen Prinzen baten nun auch um die guten Zigarren. Zum Glück hatte ich genug davon. Die Prinzessinnen freuten sich, dass die schlechten Zigarren nun durch wohlriechende ersetzt wurden, und dankten mir dafür. Ich musste dann meine Bezugsquelle angeben. In S. Gallen angelangt, wanderte die ganze Gesellschaft, von mir behütet, zu Herrn Beck, wo sie ziemlich grosse Einkäufe machten. Beide Kronprinzen luden mich ein, sie zu besuchen, der eine nach London, der andere nach Berlin.
Die beiden Töchter des Fürsten von Sigmaringen, die verstorbene Königin von Portugal und die Gräfin von Flandern, damals junge Mädchen von 16 bis 18 Jahren, fuhren sogar oft mit mir auf den Lokomotiven zwischen Rorschach und St. Gallen. Die Familie war stets sehr freundlich mit mir, und die Lebenden sind es jetzt noch. Sie kommen bereits jeden Sommer nach Ragaz.
Eine andere Anekdote betrifft den gegenwärtigen König von Württemberg. Seine Grossmutter berichtete mir, ich solle sie nach Ragaz begleiten. In Rorschach hatte ihr Enkel, der jetzige König, Hunger, wurde aber auf Ragaz vertröstet, was ihm nicht sehr willkommen war. Er mochte damals 12 bis 14 Jahre alt gewesen sein. Ich telefonierte sofort an die Stationsverwaltung, uns einen grossen Laib Brot und eine Flasche Rheintaler bereit zu halten. Bekanntlich findet man dort das beste Brot weit und breit, also beide Produkte sind dort sehr gut. Angekommen, erschien ich im Wagen des Verhungerten. Ganz erfreut darüber war die ganze Gesellschaft, besonders aber der junge Prinz, jetziger König. Er schnitt sich ein grosses Stück ab und ebenso den andern und reichte ein Glas Wein. Alle liessen es sich so gut schmecken, dass die Königin, die Prinzessin und die Hofdamen auch ihr Teil haben wollten. In einer halben Stunde war der Laib aufgegessen und der Rotwein ausgetrunken, hat aber dem Mittagessen im Hof Ragaz sehr schweren Eintrag getan. Das Auerbrot hatte ihnen besser gemundet. Sie sagten auch, so ein Brot hätten sie noch nie gegessen. Das sind von mehreren zwei Beispiele des Verhaltens von hohen Herrschaften auf der Eisenbahn «Union Suisse».
Unterdessen hatte sich Generaldirektor Michel sehr an mich und meine Familie angeschlossen in aller Freundschaft; doch verliess er schon nach einem Jahr seinen Posten, an dessen Stelle nun Präsident Wirth-Sand kam, der ja jetzt noch mit seltenem Wissen und Schaffen denselben bekleidet.
Meine Inaktiviät verbrachte ich auf Schloss Horn mit meiner Familie in angenehmem gesellschaftlichen Leben mit Herrn Michel. Zum Zeitvertreib machte ich «Häuserpläne» in der Absicht, sie später in Lausanne zu verwerten; denn mein Ideal, mich schliesslich doch in dieser Stadt niederzulassen, wo ich so glückliche Jugendjahre zugebracht hatte, beschäftigte mich immer noch. Aber wie es so oft schon der Fall war, musste ich auch da wieder sehen: «Der Mensch denkt und Gott lenkt».
Auf Anraten meines Freundes Haefeli-Wirth, der damals in der Nähe von Schloss Horn lebte und dessen innigster Wunsch es war, mich in St. Gallen zu behalten, kaufte ich den Bauplatz der jetzigen Poststrasse, und im Herbst 1859 begann ich zu bauen: zwei Doppel- und zwei einfache Häuser, und im Spätherbst 1860 waren sie vollendet und schnell vermietet.
Im Frühjahr 1860 wurde mit Herrn Bundesrat Naef ein Mietvertrag abgeschlossen für Erstellung und Benützung eines Post- und Telegraphengebäudes, dessen Plan der Bundesrat genehmigt hatte. Nach diesem, meinem Plan, fiel der ganze grosse dortige Platz mir zu. Um dieses Areal für den Post- und Eisenbahnverkehr vorteilhaft zu verwenden und um eine Verbindung mit den oberen Stadtteilen zu ermöglichen, machte ich einen entsprechenden Situationsplan, welchem aber auch - was Eigentumsverhältnisse betraf - Eisenbahn, Ortsverwaltung und Private zustimmen mussten. Ein schweres Stück Arbeit, aber es gelang mir zur allgemeinen Zufriedenheit.
Im Hebst 1860 wurde mit dem Bau des Postgebäudes begonnen, und im Dezember 1861 war es für den Einzug fertig. Die übrigen Quartierbauten sind dann 1862 erstellt, verkauft und vermietet worden. So wurde innert drei Jahren die damalige öde und etwas wilde Gegend in eines der schönsten Quartiere der Stadt St. Gallen, die dadurch eher vergrössert wurde, umgewandelt.
Noch während dieser Bauperiode erfolgte der Krach der Ost-West Bahngesellschaft in Bern. Ich war ein Jahr vorher auch mit 50.000 Franken durch einen sogenannten Freund beschwindelt worden. In der darauffolgenden ausserordentlichen Generalversammlung der Aktionäre und Obligationäre der verkrachten Bahn in Bern wurde ich als Liquidator der Gesellschaft mit unbedingter Vollmacht ernannt - eine Position, die ich annahm.
Diese Liquidation besorgte ich dann mit aller Energie und Umsicht. Sie dauerte drei Jahre. Zwei volle Monate im Jahr musste ich in Bern zubringen. Sie wurde auch mit grossem Erfolg und zur Zufriedenheit der Gläubiger zum Abschluss gebracht. Alle Gläubiger wurde mit Zins und Zinseszins voll bezahlt. Dieses Resultat war nur dadurch möglich, dass die Kreditoren und deren Advokaten sich verpflichten mussten, alle Prozesse gegen die Ost-West Bahn einzustellen und keinen neuen mehr anzufangen. Das war meine Bedingung gewesen. Ich verkaufte die Strecken Bern-Biel-Neuenburg und Bern-Langnau an den Kanton Bern zu verhältnismässig günstigem Preis. Hingegen musste ich die Strecke Luzern-Zug-Zürich mangels anderer Käufer an de N.O.B. zu einem Wucherpreis abgeben. Im Zusammenhang mit dieser Liquidation stand auch die Jura-Industrie-Bahn. Es war der Verwaltung er Ost-West-Bahngesellschaft durch eine schwindelhafte Operation von Seiten ehemaliger Direktoren gelungen, in den Besitz von Jura-Industrie-Bahn-Obligationen zweiten Ranges zu gelangen. Diese musste ich in der dortigen Verwaltung vertreten. Nach vielem Hin- und Herreisen nach La Chaux-de-Fonds, wo der Sitz der Gesellschaft war, wurde sie nach einigen Jahren der Bahngesellschaft Jura-Bern zu einem billigen Preis verkauft. Damit hat auch dieses Mühewerk seinen ersehnten Abschluss gefunden.
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