7. Kapitel 5

Ich für meine Person erhielt eine Stelle bei einem der ersten Architekten der Stadt. Mit praktischen technischen Kenntnissen arbeitete ich fleissig, so dass mein Prinzipal mich zu seinem Stellvertreter im Bureau und auf den Bauplätzen ernannte - mein erster und, ich darf es sagen, verdienter Erfolg.
Meine Aufgaben vermehrten sich, meine Bautätigkeit wurde immer grösser und vielseitiger, aber trotzdem dachte mein Prinzipal nicht daran, mein kümmerliches Gehalt zu erhöhen. So war ich nach einem Jahr veranlasst, mich zu entschliessen, auf meine eigene Rechnung mich als Architekt zu etablieren. Alle Bemühungen und Versprechungen von Gehaltsaufbesserung seitens meines Prinzipals, mich in seine Stelle zurückzuführen, blieben trotz den Bemühungen gemeinsamer Freunde erfolglos: Ich blieb beim gefassten Entschluss.
Vorerst musste ich das Architekturexamen machen; ohne dieses durfte ich nicht selbständig Bauten dirigieren. Dann galt es, unter hochstehenden und einflussreichen Herrschaften Bekanntschaften anzuknüpfen. Bei meiner allgemeinen Fachbildung gelang mir das auf sehr erfreuliche Weise. Ich erhielt nach und nach zahlreiche und wichtige Aufträge für Pläne und Zeichnungen. Um mich zu empfehlen, arbeitete ich Tag du Nacht, ob bezahlt oder nicht, mit gleichem Eifer und gleichem Interesse. Hierdurch verschaffte ich mir sehr grosse Gunst bei den Petersburger Herrschaften. Diese wussten freilich nicht, unter welchen misslichen Verhältnissen ich zu kämpfen hatte. Meine Finanzen erlaubten mir nicht mehr als drei Mittagessen per Woche zum Preise von 1½ Franken. Die anderen Tage begnügte ich mich mit Tee, den ich selbst machte, und Brot dazu, das ich selbst anschaffte. Die gebratenen Tauben flogen mir nicht ins Maul; dennoch war ich in meinem Äusseren stets fein und nobel gekleidet, und wenn etwas an der Kleidung oder Wäsche fehlte, so flickte ich es selbst wie ein Fachmann. Meine herben Lehrjahre rentierten sich auch da. Ich pflegte zu den Herrschaften im Frack und hellen Handschuhen zu gehen, und ich musste letztere selbst reinhalten.
Es ging bereits ein Jahr so auf dorniger Bahn, die Rosen waren selten. Aber niemand hatte eine Ahnung von meinen wirklichen Verhältnissen. Alle glaubten, ich lebe in sehr ordentlichen Verhältnissen. Mein Verdienst vom ganzen Jahr der Prüfung erreichte kaum 800 Franken; aber ich machte keine Schulden, sondern suchte sonst durchzukommen. Es brauchte Mut und Beherrschung. Ich erwähne dies nur, damit junge Anfänger sehen, wie man es doch machen kann.
Einen der wohlwollendsten Protektoren hatte ich im Fürst Mentschnikoff, dem berühmten Marineminister, erworben. Als Vizepräsident der Kommission der neu zu erstellenden grossen Newabrücke gab er mir den Rat, auch ein Projekt dafür auszuarbeiten. Diesen nahm ich gerne an, und ich arbeitete Tag und Nacht energisch an demselben. Nach drei Monaten brachte ich ihm meine Arbeit, die ihm so sehr gefielt, dass er gleich mit derselben zum damaligen Thronfolger und Präsidenten der Kommission der Newabrücke, dem späteren Kaiser Alexander der Zweite, sich verfügte. Der Thronfolger soll nach Prüfung meines Projektes gesagt haben: «Das ist nun dasjenige, welches mir unter den 40 Projekten am besten gefällt»w. Thronfolger und Mentschnikoff begaben sich nun mit demselben zum Kaiser. Auch der Kaiser war mit meinem Projekt sehr zufrieden und fragte: «Wer ist dieser Simon?» Mentschnikoff antwortete: «Ein kleiner junger Schweizer, der sich durch seine Arbeit sehr zu empfehlen sucht». Hierauf soll der Kaiser geäussert haben: Ich werde mich dieses Namens erinnern». Dass der Kaiser seine Worte nicht vergass, dessen konnte ich mich später oft überzeugen.
Mein Projekt kam zu den anderen. Meine Idee wurde von der Kommission als gut betrachtet, worüber Fürst Mentschnikoff sehr zufrieden war und ich natürlich noch mehr. Ich war damals 25 Jahre alt, mehr konnte ich in diesem Alter nicht erwarten.
Obwohl ich mit Arbeit überhäuft war, gestaltete sich meine finanzielle Lage doch nicht besser und mein Unterhalt nicht reichhaltiger. Aber es heisst ja im Sprichwort: «Wo die Not am grössten ist, ist die Hilfe am nächsten».
Ich erhielt plötzlich eine Einladung zum Mittagessen bei der Fürstin Radzwyl. Vor demselben machte mich die Fürstin mit ihrem Onkel, dem Grafen Tatitscheff, damals russischer Botschafter in Wien, bekannt. Seinen über dreissig Jahre bekleideten Posten verliess Graf Tatitscheff und kehrte nach St. Petersburg zurück. Hier wollte er Neubauten für seine zukünftige Residenz vornehmen. An diesem Mittagessen sass ich neben Graf Tatitscheff, der sich sehr liebenswürdig mit mir unterhielt. Nach demselben und nach gepflegten Gesprächen über Bauten erklärte er mir, er sein nun entschlossen, seine zu erstellenden Bauten mir zu übergeben, ich möchte am anderen Morgen zu ihm kommen Überaus glücklich darüber und voll Dankbarkeit verliess ich den Grafen und die Fürstin Radzwyl. Auch da erinnerte ich mich wieder an die Worte: «Wo die Not am grössten, da ist Gott am nächsten».
Am andern Tag morgens war ich zur bestimmten Stunde beim Grafen. Wir vereinbarten das Programm über den Umbau seines «Palais» und über den Neubau eines anderen, anstossend an das alte Gebäude. Die Pläne hierfür waren programmmässig rasch gemacht, denn ich arbeitete Tag und Nacht. Ich brachte sie dem Grafen zur Einsicht, und er war sehr erfreut und erstaunt über die so rasch angefertigten Projekte und war mit denselben ganz einverstanden.
Von da an war ich sein Liebling und Vertrauensmann. Bei jeder Gelegenheit und dreimal in der Woche musste ich mit ihm zu Mittag speisen. Der Graf schenkte mir dann auch zwei schöne Pferde samt Wagen, indem er sagte, bei meinem Talent müsse ich fahren, das entspreche seinem Range und gehöre sich.
Die Bauten wurden schnell und solid zu seiner vollen Zufriedenheit ausgeführt. Dahin liess er seine Kunstsachen von Wien kommen im Werte von über 10 Millionen, und sie wurden noch nach seiner Anordnung in den dazu bestimmten neuen Räumen platziert. Kurz nachher erblindete er unglücklicherweise; dies hinderte ihn aber nicht, mit Hilfe seines guten Gedächtnisses seinen Besuchern in den Kunsträumen als Cicerone zu dienen, was ihm stetes viel Freude machte. Dies sollte leider nicht lange dauern: der verdiente Mann liess sich in Wien operieren und starb dort bald nachher.
Seine sämtlichen Kunstsachen hatte er testamentarisch dem damaligen Thronfolger, später Kaiser Alexander dem Zweiten, vermacht. Mit dem Scheiden meines Protektors aus dem Leben war dann auch meine so schöne und interessante Periode zu Ende.
Graf Tatitscheff war kinderloser Witwer. Sein vorher verstorbener Bruder hatte einen minderjährigen Sohn und ein Töchterlein hinterlassen, die im Gouvernement Kastroma wohnten. An das Waisenamt von Kinitschowig mussten die Rechnungen auf den Erblasser eingegeben werden. Die Unternehmer der Bauten des Grafen hatten noch grosse Beträge zu fordern. Über diese Eingaben entschied das dortige Waisenamt und Bezirksgericht, und zwar nach zehn Jahren Verfahren dahin, sie seinen abzuweisen. Dieser durch Bestechung veranlasste Entscheid veranlasste die interessierten Unternehmer, mich zu bitten, in Ermangelung einer unbestechlichen Persönlichkeit dorthin zu reisen und je nachdem Rekurs beim Gouvernementsgericht in Kastroma zu erzwingen.
Ich willigte ein und reiste Mitte Dezember 1852 nach Moskau. Daselbst nahm ich einen meiner Diener und meinen Arzt mit. Indem wir bei offenem Schlitten und ständiger Kälte von -34 Grad Réaumur drei Tage und drei Nächte ununterbrochen dahinfuhren, trafen wir in Kinitschowig ein. Das war eine entsetzliche Leistung, und erst fanden wir in Kinitschowig kein Hotel, nur eine Schnapsbude mit Ungeziefer als Logis und als einzig geniessbare Nahrung eine Sterletfischsuppe. Im Gerichtsgebäude erwartete uns das ganze Gerichtspersonal, in der Zahl von 20 Mitgliedern, denen ich mit harten Worten ihren ungerechten Entscheid vorhielt. Die Herren Richter sagten ganz frei und unverfroren, die Gegenpartei habe ihnen 200 Rubel bezahlt und deshalb ihre Stimmen bekommen. Hätten wir ihnen die grössere Summe gegeben, so wäre das Recht uns gewesen, da es eigentlich auf unserer Seite gewesen sei. Den allmächtig grossen Starosten konnten wir unmöglich stören. Ich anerbot diesem 20 Mann zählenden Gericht (einer sah bettelhafter aus als der andere) 25 Rubel für richtige Abschriften dieser Akten bis zum nächsten Morgen. Diese erhielten wir dann auch, kontrollierten sie, und nach Richtigfindung zahlte ich der hocherfreuten Bande die 25 Rubel. Diese wurden mit grossem Dank angenommen. Sie verbeugten sich bis auf den Boden und sagten: «Ach lieber Herr, wären Sie doch früher gekommen. Wir hätten sicher und gewiss einem so guten Herrn Recht gegeben».
Wir reisten sofort nach Kostranevum, um beim dortigen Gouvernementsgericht Rekurs gegen das Urteil von Kinitschowig einzureichen. Alle Vorstellungen, die wir dem dortigen Gerichtspersonal machten, hörten sie mit grösster Gleichgültigkeit an. Sie wollten zum voraus Geld haben - aber das gab ich ihnen nicht.
Wir traten die Rückreise an mit der Überzeugung, unser Rekurs werde auf die Seite gelegt werden und dass es wieder 10 Jahre gehen werde, bis wir einen ähnlichen Bescheid bekommen würden, und somit erst im Senat in St. Petersburg das Recht erlangen würden.
Ich will von dieser schwierigen Argonautenfahrt nach dem goldenen Vlies nur zwei Episoden festhalten, um zu zeigen, wie gefahrvoll und mühsam sie war. Die eine betrifft die Hinreise, die andere die Rückreise.
In der Stadt Jaroslaw bei einem fürchterlichen Schneesturm 10 Uhr nachts angelangt, erhielten wir mit grosser Mühe nur eine Sterletfischsuppe. Wir hatten wohl kalte Speisen und gute Getränke mitgenommen, aber alles war bei der grossen Kälte so stark gefroren, dass es ungeniessbar war. Während des frugalen Essens in dem sogenannten Hotel kam mein Diener gerannt und erzählte mit besorgter Miene Raub- und Mordgeschichten, die in den letzten Tagen in dem Wald, den wir passieren mussten, vorgekommen seien. Er flehte uns an, hier zu übernachten, dem auch der Doktor in seiner grossen Angst beistimmte. Ich aber bestand auf der Abreise, die 12 Uhr nachts bei grossem Schneesturm erfolgte. Um 12 ½ Uhr nachts kamen wir an der Poststation an, mitten im Wald. Wir mussten Kutscher und Posthalter wecken und verlangten für die Weiterreise die berechtigten Pferde. Die Kutscher wollten aber nicht fahren, weil sie Angst hatten, diese gefährliche Fahrt bei Nacht zu machen. Da drückte ich dem Posthalter einen Silberrubel in die Hand, und wie ein Blitz und Donnerschlag erfolgte das Kommando: Der beste Kutscher und die besten Pferde sollten sofort fahrbereit sein. Der Posthalter fragte, ob wir auch Revolver bereit hätten, was wir bejahten, obschon wir keine hatten, und gab uns Instruktionen beim Auftauchen einer Räuberbande. Dies alles war nicht sehr gemütlich; aber wohl und gut kamen wir bei der nächsten Poststation an das Ende des Waldes. Als ich nach der Uhr schaute, stellte es sich heraus, dass wir volle 6 Wegstunden in 1 Stunde gefahren waren. Für diese Leitung erhielt der Kutscher 1 Silberrubel Trinkgeld. Ganz glücklich sagte er, so gute Herren habe er noch nie gefahren. Auch wir fühlten uns glücklich, diese gefährliche Partie hinter uns zu haben.
Wirklich gefahrvoll und unglücklich hätte es auf der Rückreise herauskommen können. Zwischen Kastrava und Jaroslaw mussten wir über die gefrorene Newa setzen. Gegen Ende der Fahrt brach unter den Pferden plötzlich das Eis, und schon waren wir alle im Wasser, schon drohte uns der Tod des Ertrinkens. Da trieb der Kutscher verzweifelt die Pferde an und brachte sie zum Schwimmen. Dieser seiner Geistesgegenwart verdankten wir es, dass wir glücklich, aber pudelnass an das Ufer kamen.
In einer halben Stunde langten wir in dem bekannten Jaroslaw an, wo wir uns trocknen, erwärmen und erholen konnten. Wohl hatte uns alle nur die ausserordentliche Aufregung vor der Erkältung bewahrt. Solche Reisen macht man nur in der Jugendzeit. Sie sind mühe- und gefahrvoller als Schiff- und Eisenbahnfahrten; aber da leistet fester Wille viel. Es heisst: «Halte fest dein Auge auf das Ziel, der Mensch kann, was er will».
In St. Petersburg zurück, vernahm ich erste jetzt, mit welcher Wärme der verstorbene Graf Tatitscheff mich empfohlen und protegiert hatte. So kann und will ich es sagen: Ihm verdanke ich viel bei der Gründung meiner glücklichen Verhältnisse. Er hat dazu beigetragen, dass ich meine Kenntnisse und Arbeitskraft voll und ganz einsetzen konnte.
Ich war schon Ende des dritten Jahres meiner selbständigen architektonischen Tätigkeit einer der meistbeschäftigten und gesuchtesten Architekten unter den zahlreichen Kollegen der grossen und immer prächtiger werdenden Stadt. Und doch war ich wählerisch in der Annahme von Bauten. Ich übte meinen Beruf nur für hohe Herrschaften aus.
Ich machte die Pläne für das Schloss Galinski im mohilewschen Gouvernement, deren Ausführung meinem ältern Bruder übertragen wurde. Er wurde der Freund und Vertrauensmann dieser gräflichen Familie und blieb 40 Jahre lang bei ihr. Er hatte sich die gute Stellung und die grosse Achtung derselben erworben, blieb aber leider unverheiratet.
Auch das Schloss Marino bei Moskau des Grafen Worontschof-Daschkow ist mein Werk und unter meiner Oberleitung gebaut worden. Bei der Arbeit führte mein jüngerer Bruder die spezielle Aufsicht. Auch er ist als ausserordentlicher Vertrauensmann und in wichtiger Stellung 45 Jahre lang bei dieser gräflichen Familie bis heute geblieben, zuerst beim Vater und jetzt beim Sohn, Graf Worontschof-Daschkow, gegenwärtiger Minister und Jugendfreund Kaiser Alexander des Dritten. Auch er ist bei der ganzen Familie beliebt und geachtet.
Diese beiden Schlösser sind Bauten, die viele Jahre der Ausführung gebraucht haben. Während der Bauzeit musste ich jedes Jahr bis viermal hinreisen, und jede dieser Inspektionen dauerte mehrere Wochen. Dann sind zu nennen der Palast vom Grafen Tatitscheff, derjenige vom reichen Lazaroff (Armenier), derjenige vom Grafen Meluruski, als auch zwei Paläste von General Narischkin. Ferner der Palast vom Grafen Worontschof-Daschkow, jene vom Fürsten Raziwil, vom Fürsten Galizin, und so verschiedene grössere oder kleinere Palastumbauten.
Diese und viele andere in St. Petersburg und Moskau von mir erstellten Prachtsbauten fanden so grossen Beifall, das mir der Titel «Akademiker» de l’Académie des Beaux-Arts de l’Empereur de toutes les Russies verliehen wurde. Das Dokument, unterzeichnet von der verstorbenen Grossfürstin Maria Nikolowna, der damaligen Präsidentin der Académie des Beaux-Arts von St. Petersburg, befindet sich bei meinen Privatakten in Ragaz und der dazu gehörige Orden bei Richie Simon.
Sobald ich in der Lage war, es tun zu können, nahm ich meine beiden Brüder ins Geschäft. Ich hatte die Befriedigung, konstatieren zu können, dass sie ihre Aufgabe gut erfüllten und es auch verstanden, sich bei den Bauherren und deren Familien beliebt und unentbehrlich zu machen. Dann wollte ich auch für meine Schwester, die Älteste der Familie, sorgen. Sie bedurfte der Unterstützung für die Erziehung ihrer neuen Kinder, die ich gerne leistete. Es ist selbstverständlich, dass ich zuallererst meinen Eltern eine sorgenfreie Existenz bereitete. Alle konnten ihren Lebensabend durch mich verbessern, und ich glaube auch da meine Aufgabe und Pflicht erfüllt zu haben.
Was nun mich selbst betrifft, so veranlassten mich berufliche und gesellschaftliche Beziehungen, an die Wahl einer Lebensgefährtin zu denken. Ich hatte schon lange in der Familie von Herrn und Frau Schugart in St. Petersburg die liebenswürdigste Gastfreundschaft genossen. In der Familie Schugart waren drei Kinder: ein Sohn und zwei Töchter. Ich warb um die Hand der Zweitältesten, Caroline Frederike, und wurde angenommen. In ihr fand ich die treue und teilnehmende Lebensgefährtin, die willig des Lebens Freud und Leid mit mir teilte und jederzeit ein freundliches Heim mir zu bereiten wusste.
Als später unsere Ehe auch mit Kindern gesegnet wurde, war sie es wieder, die freudig die Hauptarbeit bei der Erziehung übernahm, da ich in meinem grossen und umfangreichen Berufsleben dazu leider nur wenig Zeit aufbringen konnte. Auch in dieser Skizze meines Lebens soll darum der treuen Gattin und Mutter in aufrichtigem Dank für alles, was sie mir und den Kindern war, gedacht werden. Wenn ich später im Leben die Freude habe erfahren dürfen, dass meine Söhne sich tüchtig und fähig erwiesen, die Last der Geschäfte mir abzunehmen und sie in eigener Person weiterzuführen, und wenn ich meine Töchter als tüchtige Hausfrauen in ihrem neuen Familienkreis wirken sah, dann weiss ich und wissen es die Kinder, wem sie das Beste ihres Lebens zu verdanken haben, nämlich der stillen, treuen erzieherischen Arbeit ihrer Mutter. Darum sei denn auch hier meiner erkorenen Lebensgefährtin ein Kränzlein gewunden.
Ende Dezember 1845 fand unsere Hochzeit statt, und so war auch mein Familienleben gegründet. Im Jahre 1848 besuchten uns Onkel und Tante. Sie betrachteten mich als ihren Sohn und hatten eine unaussprechliche Freude an meinem Erfolg und an unserem Wiedersehen. Die Bekanntschaft meiner Frau hatten sie schon ein Jahr vorher gemacht, als dieselbe sie mit unserem ältesten Kinde Fridolin besucht hatte. Sie blieben einige Wochen in unserem Kreise und kehrten dann nach Lausanne zurück.
Ich sollte meinen lieben Onkel nicht mehr wiedersehen: als «Inspecteur des traveaux publics» und als Erbauer «du pontage du Flon» in Lausanne musste er nach seiner Heimkehr die fertigen Arbeiten in diesen feuchten Lokalitäten ausmessen und erkältete sich dabei so, dass er schon acht Tage nachher eine Leiche war. Diese Unglückspost erschütterte mich sehr, und meine Rührung musste noch zunehmen als ich einige Tage später die Abschrift des Testaments meines Onkels las, worin er mich als seinen Unversalerben einsetzte.
Zur Erfüllung der gesetzlichen Formalitäten sollte ich sofort nach Lausanne kommen. Das war rasch gesagt, aber nicht leicht auszuführen. Die 48er Revolution in Deutschland hatte den Kaiser Nikolaus strenger gestimmt: den Russen wurde nur in seltenen Fällen ein Pass ins Ausland und retour erteilt. Ausländer, welche einen Pass haben wollten, bekamen einen solchen nur für die Ausreise, mussten aber ihre Ausreise drei Wochen vorher in allen russischen Zeitungen von Bedeutung bekannt geben. Das konnte und wollte ich nun nicht. In meiner Verlegenheit besuchte ich meine grosse Protektorin, die Gräfin Worontschof-Daschkow. Nach der Darstellung meiner Lage gab sie mir ein Billet an den General, Graf Orloff, damaligen Minister der geheimen Polizei und intimsten Vertrauensmann des Kaisers. Ich verfügte mich sofort zu seinem Palais. In der «salle d’attente» des Ministers warteten viele Militärs und höhere Staatsangestellte auf Audienz. Ich dachte mir natürlich, als Letzter lange warten zu müssen, gab aber mein Billett dem ersten Bedienten, der mich zufällig kannte, da auch Graf Orloff mein Protektor war. Nach ein paar Minuten wurde ich zum Grafen gerufen zum grossen Erstaunen der vielen anwesenden Würdenträger. Ich wurde sehr freundlich vom Grafen empfangen, musste neben ihm Platz nehmen, und im Laufe des Gesprächs fragte er mich, wann ich zu verreisen gedenke. «Morgen abend, wenn es möglich wäre», war meine Antwort. «Gut», sagte der Graf, «Sie sollen morgen vormittag Ihren Pass zur Hin- und Rückreise erhalten». Sehr erfreut über diesen huldreichen Empfang verabschiedete ich mich dann. Der Minister wünscht mir noch eine glückliche Reise und meinte: «Wenn alle Fremden sich so verhalten würden wie Sie, Herr Simon, so hätte ich nichts zu tun».
Am nächsten Morgen brachte mir sein erster Adjutant den fraglichen Pass und ein Empfehlungsschreiben des Grafen.
Am nächsten Abend trat ich die lange Reise an und kam endlich glücklich in Lausanne an. Ich stieg bei meiner armen, trostlosen Tante ab, die alles zu meinem Empfang vorbereitet hatte. Die Erinnerung an den verstorbenen Onkel bildete die Unterhaltung.
Nachdem alle testamentarischen Verfügungen gesetzlich geregelt waren, was 14 Tage dauerte, verabschiedete ich mich wieder, um meine Eltern, die ich lange Jahre nicht mehr gesehen hatte, in Niederurnen zu besuchen. Die Freude derselben war natürlich eine sehr grosse.
Unter dem Schutz des Passes und des Empfehlungsschreibens des Grafen Orloff reiste ich nach St. Petersburg zurück.
Nach meiner Ankunft ging ich wieder an meine Arbeit, die ausserordentlich gross war. Dann musste ich nach Moskau reisen, um meine dortigen Bauten zu inspizieren. Kaum dort angekommen, hatte sich die Cholera ausgebreitet, der täglich mehr als 1200 Menschen zum Opfer fielen. Ich brachte dann acht Tage in Moriew, sechs Stunden von Moskau entfernt, bei der Inspektion der dortigen Schlossarbeiten zu. Auch da hatte die Cholera schon sehr zugenommen. Plötzlich trat auch in St. Peterburg die Seuche in schrecklicher Weise auf. Täglich erlagen 1300 Menschen dieser Epidemie. Sofort reiste ich ab. Nach meiner Heimkehr flohen wir alle aufs Land, zwei Stunden von St. Petersburg, nach dem sogenannten Forstcorp, das ziemlich hoch und gut bewaldet war und wo die Epidemie nicht hinreichte.
Weder Epidemie noch Entfernung konnten mich aber hindern, die vielen Bauten in der Stadt zu beaufsichtigen. Von vormittags bis nachmittags 4 Uhr war ich auf den Bauplätzen, um den dort beschäftigten Arbeitern im Notfall mit Medikamenten nützlich zu sein und sie zu beruhigen.
Immer und überall bestrebte ich mich einer soliden Lebensweise. Dies hat mich auch, nebst höherem Geschick, in Moskau, auf der Reise und in St. Petersburg vor Choleraanfällen beschützt. Immerhin hatte ich einige beängstigende Anfälle in der Nähe des Choleraherdes, die ich nicht vermeiden konnte. Gegen Spätherbst erlosch die fürchterliche Epidemie, und alle, die aus St. Petersburg geflohen waren, kehrten zurück.
Das russische Klima war übrigens meiner Gesundheit nie günstig, doch konnte ich immer meinem Beruf in allen Teilen gerecht werden und meine geschäftliche Klientele zufrieden stellen.
Gegen Ende 1853 kamen meine gewohnten Magenleiden plötzlich zum lebensgefährlichen Ausbruch. Die Folgen davon waren, dass die Ärzte erklärten: «Verlassen Sie Russland, einem nochmaligen solchen Anfall könnten sie nicht mehr Stand halten, das russische Klima ist nun zu gefährlich für Ihre Gesundheit geworden.» So lautete das Orakel der Doktoren.
Nach langer Überlegung folgte ich diesem Rat. Es war ein schwerer Entschluss. Anfangs Juni verabschiedeten wir uns, meine Frau und die Kinder, von St. Peterburg, das ich sehr lieb gewonnen hatte; denn ich hatte bei stetiger eigener Anstrengung doch viel Sympathie, Anerkennung und Freundschaft gefunden und schliesslich ein grosses und reiches Arbeitsfeld.
Wir nahmen nach Ordnung aller beruflichen und privaten Geschäfte herzlichen Abschied von lieben Verwandten, von vielen und treuen Freunden, von hochgeachteten Gönnern und auch von der Zarenstadt, wo mir die launische Fortuna auch mit Geld gelächelt hatte. Wenn es auch heisst: «Selbst ist der Mann», so hilft das Glück doch auch viel mit.
Wir reisten direkt nach St. Gallen, voll Erinnerungen und Dank an die nordische Hauptstadt, die ich als ganz junger Mann zaghaft betreten hatte, und wo ich, ich darf es dankbar und anerkennend sagen, mich als gemachter Mann verabschieden konnte.
Durch unseren Petersburger Freund, Iwan von Tschudi, der sich in St. Gallen niedergelassen hatte, veranlasst, Aktien der St. Galler-Appenzellerbahn zu kaufen, nun als Aktionär, fand ich es angezeigt, in Begleitung meines Freundes Tschudi dem Präsidenten der St. Galler-Appenzellerbahn einen Besuch zu machen.
Von St. Gallen reisten wir nach Niederurnen zu meinen Eltern und dann zu Herrn Moser auf Charlottenburg in Schaffhausen, meinem langjährigen Freund von St. Petersburg, und schliesslich zu meiner Tante nach Lausanne. Den Rest brachen wir in Veytaux bei Chillon bis Ende September zu. Nach getaner Arbeit schmeckte die ländliche Einsamkeit und Ruhe auch wieder recht gut.
Als Winteraufenthalt und als künftige Wohnstätte hatten wir Lausanne ausgesucht; aber nochmals heisst es: «Der Mensch denkt und Gott lenkt».
Leider, und wahrscheinlich als Folge meines Besuches beim Präsidenten des Verwaltungsrates der St. Galler-Appenzellerbahn und auf Veranlassung meines Freundes Tschudi, erhielt ich als grosse Überraschung - die Ernennung als Verwaltungsratsmitglied der St. Galler-Appenzellerbahn. Ich lehnte entschieden ab, da ich nicht willens war, mich in St. Gallen niederzulassen. Freund Tschudi war damit nicht einverstanden: Sein innigster Wunsch war, uns in St. Gallen zu haben. Er machte nun den Vorschlag, es wenigstens ein halbes Jahr lang zu probieren. Er redete meiner Frau zu, die eher geneigt war, in St. Gallen zu wohnen als in Lausanne, und Petersburg wieder besuchen wollte und im Stillen hoffte, ich werde später wieder nach Russland zurückkehren. Wohl und gut, meine Frau reiste nach Petersburg ab, und ich nahm schliesslich Tschudis Vorschlag an. Zu einem beschaulichen Bürgerleben war ich zu lebhaften Geistes, und die Arbeit war stetes die Würze meines Leben.
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