6. Kapitel 4

Am 22. Mai 1839, acht Tage nach meiner Unterredung mit meinem Onkel, befand ich mich schon als nachdenkender Passagier im Postwagen Lausanne - Paris. «Nachdenkend», sagte ich, denn erst jetzt fühlte ich so recht, wie schwer es ist und wie schmerzhaft es sich fühlt, so liebe, teure Verwandte, so viele Freunde und Bekannte und eine heimelige Stadt und ein liebgewordenes Land zu verlassen und zu missen. Es war viel auf einmal, was ich vermisste, aber in der Ferne leuchtete mir der Hoffnungsstern, und ich richtete meine Augen nun fest auf ihn. Paris sollte mir Pflanzstätte höheren Strebens und Wirkens werden.
Nach drei Tages- und Nachtfahrten kam ich in der Weltstadt an. Es war der 24. Mai 1839. Einen unbeschreiblich grossartigen Eindruck machte die Residenzstadt auf mich jungen Mann. Wie wogte da das Leben, wie glänzte da modernes Bauwerk, welche farbenprächtige Szenerie!
Über meinen Pariser Aufenthalt mache ich keine Schilderung. Ich widmete mich von morgens früh 5 Uhr bis abends 8 Uhr eifrig meinen architektonischen Studien und daneben lebte ich so bescheiden als möglich. Per Tag gab ich alles in allem 2 ½ Franken aus. Dennoch mahnten meine Finanzen stets und stets zum Aufbruch.
Nach monatelangem Aufenthalt durfte ich ziemlich grosse Fortschritte verzeichnen im ganzen Architekturwesen, denn ich hatte offene Augen und einen Fleiss für alles.
So verliess ich Paris, und zwar in Begleitung meines ältesten Bruders, der als tüchtiger Klaviermacher eben echt pariserisch lebte. Um so genauer ging ich mit meinen kommerziellen, meinen geistigen und bürgerlichen Eigenschaften zu Rate, denn noch grossartiger und gewagter, als der Schritt nach Paris für mich jungen Anfänger gewesen war, war das Ziel, in St. Petersburg zu sein.
So besorgte ich die Billete nach St. Petersburg, und wir reisten per Bahn bis St. Germain. Es war eine der wenigen Eisenbahnen, die es damals gab, und von da per Post nach Le Hâvre.
Mit schmerzlichem Erstaunen sahen wir daselbst das Dampfschiff, welches uns mitnehmen sollte, aus dem Hafen dampfen, da sich unsere Post verspätet hatte. Was nun anfangen? Der Dampferverkehr zwischen Le Hâvre und St. Peterburg erfolgt nur alle 14 Tage, und so lange warten konnten und wollten wir nicht.
Über unser unglückliches Schicksal recht traurig, gingen wir nachdenkend am Hafenquai auf und ab. Plötzlich tauchte ein rettender Schutzgeist auf in der Gestalt eines Schiffsbesitzers, der uns versprach, mit seinem Segelschiff in 5 Tagen in Hamburg anzukommen. So sollten wir zwei Gebirgssöhne die Gefahren des Ozeans kennen lernen. Wir nahmen den Vorschlag an und reisten am gleichen Abend ab.
Die Prüfungszeit mit elementaren Gefahren nahm für mich nun ihren Anfang. Ein fürchterlicher Sturm entstand, und ich konnte mir so recht ein Bild von Wogenbergen machen und meinen Mut erproben. Infolge des Sturms brach am sechsten Tage vor Boulogne - denn weiter sind wir nicht gekommen - der Mast, und wir mussten in den dortigen Hafen einlaufen. Hier verliessen wir als Schwergeprüfte das Segelschiff und reisten am nächsten Tag mit der Post nach Dünkirchen. Von dort nahmen wir das Dampfschiff bis Hamburg. Auf diesem machten wir die Bekanntschaft mit vier Franzosen, wovon zwei der französischen Botschaft in St. Petersburg angehörten. Sie reisten auch dahin und gedachten wie wir direkt nach Lübeck zu gehen, um dort am anderen Tag das Dampfschiff nach St. Petersburg zu nehmen. Aber «»der Mensch denkt und Gott lenkt». Wir kamen einen halben Tag zu spät in Hamburg an, und leider mussten wir uns nun daselbst volle sechs Tage aufhalten.
Hamburg war damals noch die alte Stadt, die ich nicht uninteressant fand, aber meine Finanzen waren an dem Verzug auch sehr interessiert.
Acht volle Tage später waren wir auf dem Dampfer Lübeck - St. Petersburg. Anstatt in drei Tagen kamen wir erst am achten Tag dorthin. Stürme und Gegenwinde veranlassten den Kapitän, auf der Insel Gothland anzulegen und dort Kohlen zu fassen. Ein fatales Schicksal verfolgte uns förmlich.
Endlich, Ende Juni 1839, russischen Stils, kamen wir in der Kapitale des riesigen Weltreichs an, ich beinahe mit leerer Tasche. Ein anderes Land, andere Menschen, andere Sitten und andere Erscheinungen als bisher drängten sich dem leiblichen und geistigen Auge auf. Meine Blicke waren auf Existenz gerichtet. Glücklicherweise fanden wir in zwei Tagen befriedigende Beschäftigung.
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