4. Kapitel 2

Am 9. Februar 1835 nahm ich von meinen Eltern, Freunden und Gönnern Abschied, freudig gestimmt zwar, aber doch mit einiger Bekümmernis, was ja begreiflich war. «Courage», sagte ich mir, «der Glarner geht nicht so leicht zu Grunde». Und mancher hat in der Ferne sein Glück gemacht.
Nach alter Väter Sitte ging die Reise mit dem Stock in der Hand und dem drückenden Felleisen auf dem Rücken auf der grossen Heerstrasse einer fremden Welt zu: «Denn hier ist keine Heimat, jeder treibt sich an dem andern fremd und kalt vorüber». Unverdrossen marschierte ich drauflos. Das Neue, das ich sah, erweiterte meinen Horizont, regte Körper und Geist frisch an. So steuerte ich, Gott vertrauend und gehobenen Gemütes, meinem fernen Reiseziel zu.
Ich hatte Zeit, auf mein Kinder- und Schülerleben zurückzublicken, welche mir schon viel Arbeit und Entsagung auferlegt hatten, Zeit an die Zukunft, die besser sein sollte, zu denken. Mein steter Entschluss war, etwas Rechtes zu werden und vor Gott und den Menschen in Ehren zu wandeln.
Ich hatte weder von meinen Eltern noch von meinem Onkel Reisegeld erhalten und musste von meinem ersparten Sümmlein die Reise bestreiten. Da hiess es sparen, um die ersten Mittel für meinen Lebensplan zu besitzen und dem Grundsatz zu huldigen: «Selbst ist der Mann».
An Energie und festem Willen, an Tätigkeit und an einem ernsten und solidem Leben fehlte es mir schon damals nicht. Gottlob! Ich verbrauchte für die weite Reise nach Lausanne denn auch nur zwei Kronentaler. Freilich gab es manchen Schweisstropfen, manchen müden Abend, manche gedankenvolle Nacht. Aber des frühen Morgens war ich frisch und heiter wie ein Sommertag im Gebirge, von dem ich kam.
Meine Reiseeindrücke waren für einen kaum aus der Dorfschule und zum erstenmal aus dem väterlichen Gütchen gekommenen, noch nicht einmal zum Jüngling herangewachsenen Knaben mächtig genug; sie sollen hier aber nicht erwähnt werden, da ich ja nur über meine wichtigsten Lebensereignisse berichten will.
Endlich lag der schöne blaue Léman vor meinem erstaunten Augen. Es breitete sich eine für mich grosse Stadt aus: das ersehnte Lausanne.
Am 18. Februar 1835, nachmittags, langte ich bei meinem Onkel und bei meiner Tante an und wurde von ihnen recht freundlich aufgenommen. Wohl war auch meine Stimmung eine freundliche, und ich versöhnte mich bald mit der Fremde, in welche ich, so jung noch, gegangen war. Auch hatte ich am ersten Nachmittag genug zu sehen und zu hören.
Gleich am nächsten Morgen erklärte mir mein Onkel, dass er mich zu einem Meister-Gipser, der auch Flachmaler und Maurer war, für eine dreijährige Lehrzeit gegeben habe. Diese Verfügung freute mich nicht besonders, denn mein Sinn stand doch nach Höherem und Besserem. Ich sagt mir: «Du lernst das Handwerk, aber es soll nicht dein eigentlicher Lebensberuf werden».
Mein Onkel begleitete mich zu dem erwählten Meister, der ein sehr tüchtiger Fachmann war. Als mein Onkel mich verliess, sagte er zu mir: «Sei recht folgsam», und zum Meister, er solle recht streng mit mir sein. Diese Empfehlung hatte ich nicht verdient, und der Meister befolgte sie nicht nur, er wusste sie zu überbieten, und wie! Ich wurde von diesem Mann geradezu unmenschlich gehalten und barbarisch behandelt. Das hatte mein Onkel zwar nicht gewünscht.
Auf meine Jugend machten diese Vorfälle umso mehr einen bitteren Eindruck, als ich stets mein Bestes leistete. Ich will sie nicht weiter auseinandersetzen, sondern nur erwähnen, um auszudrücken, dass mir das Leben auch keine Rosen hat blühen lassen.
Es war eine saure Lehrzeit: Von morgens früh bis abends 8 Uhr war ich stets angestrengt tätig und gab nie zu Klagen Anlass. Ich war so aufmerksam, dass der Meister schon nach einem halben Jahr Lehrzeit dem Arbeitgeber einen vollen Arbeitslohn für mich in Rechnung stellen konnte und bekam. Den verdiente ich auch redlich, aber selten anerkannte der Meister meine Leistungen und selten gab er mir ein gutes Wort.
Es gibt ja Sympathien und Antipathien, über die wir uns keine Rechenschaft geben können. Sei es letztere gewesen oder die Ahnung, ich werde einmal sein Vorgesetzter sein, machte mir meine Lehrzeit zu einer richtigen Probezeit, um nicht mehr zu sagen.
So trat der Ernst des Lebens schon früh an mich heran, und in mancher verzweiflungsvollen Stunde wollte es mir vorkommen, als hiesse es, allen Hoffnungen zu entsagen. Aber ich war eingetreten und ich wollte durchhalten. Früh trat die Härte des Lebens an mich heran, früh musste ich an mein Innerstes appellieren, früh Selbständigkeit bei meiner Umgebung mir angewöhnen. Sie sind mir in der Folgezeit geblieben. Zeit und Beruf wirken viel auf den Menschen ein.
Aber trotz dem strengen Beruf stellte ich die Lektionen meiner technischen Ausbildung nicht ein. Jeden Abend nach des Tages Arbeit ging ich zu meinem Onkel, um zu zeichnen und Pläne zu machen, und zwar gewöhnlich bis nachts 12 Uhr. Das gleiche geschah jeden Sonn- und Feiertag. So ging es ein ganzes Jahr. Ich strengte mich so an und liess mich nicht abschrecken, so dass mein Onkel über meine Fortschritte sehr erstaunt war. So viel hatte er nicht erwartet.
Nach dem ersten Jahr dieser strengen Lehrzeit liess mich mitten eines Tages mein Onkel zu sich rufen und sagte freundlich: «Mit heute ist deine Lehrzeit zu Ende. Morgen schon kommst du zu mir und wirst mein Gehilfe. Deine Fortschritte in den praktischen Arbeiten, im Zeichnen und in der Mathematik sind mir bekannt, so dass ich keinen Abstand nehme, dich als meinen Gehilfen und Stellvertreter anzustellen. Deinem Meister habe ich dies mitgeteilt».
Ich war hoch erfreut: Arbeit und Mühe, Lernen und Streben, Studium und praktische Übungen hatten sich also gelohnt. Ich hatte es zum Gehilfen des Stadtbaumeisters von Lausanne gebracht, weiter als ich es mir in Niederurnen hatte träumen lassen. Auch die harte Arbeit beim Gipser-, Maurer- und Malerberuf war mir in der Folge sehr nützlich, so dass ich mich trösten konnte: du hast nicht vergebens gelernt. «Früh übt sich, was ein Meister werden will».
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