12. Kapitel 10

St. Moritz führte mich sozusagen nach Ragaz und zu den letzten grossen Unternehmungen und Erlebnissen meiner Wirksamkeit, die mit dem Interesse des öffentlichen Lebens vielfach verbunden war.
Bei meinem kurzen Aufenthalt in St. Moritz 1860 begegnete ich nämlich Herrn Landammann Dr. Weder sel., welcher zur Kur dort weilte. Unter anderem sprach er auch über Ragaz-Pfäffers mit mir. Die Worte dieser Unterhaltung sind mir noch frisch im Gedächtnis: «Herr Simon», sagte er, «Sie sollten als St. Galler auch etwas für Ragaz-Pfäffers tun. Der Staat wäre bereit, diese Domäne zu verkaufen. Sie sollten zu deren Erwerbung eine Gesellschaft gründen, was Ihnen gewiss leicht fallen würde».
Mir aber waren damals Ragaz und seine Verhältnisse gar nicht bekannt, somit konnte ich ihm auch keine diesbezügliche entsprechende Antwort geben. Herr Weder verfolgte sein Gespräch weiter, damit schliessend, er lade mich ein, auf der Heimreise Ragaz zu besuchen, er wolle mir die diesbezügliche Domäne zeigen. Diese Einladung musste ich, wenn auch geschäftshalber, annehmen. Bei Herrn Hauser, dem damaligen Pächter des Hof Ragaz, angekommen, informierten wir uns zuerst; dann wurde uns das Etablissement gezeigt und Aufschluss über das ganze Gebiet erteilt. Nach langen Besprechungen über alle Verhältnisse dieser Domäne kamen wir überein, ich solle sofort Schritte tun, eine Gesellschaft von Kapitalisten für deren Erwerb zu interessieren. Herr Hauser und Dr. Weder erklärten, Mitglieder dieser Gesellschaft werden zu wollen. Im Verlaufe einiger Wochen konnte ich eine sichere und respektable Gesellschaft von Finanzmännern für den Erwerb der Domäne Ragaz-Pfäffers bilden. Ein diesbezüglicher Kaufvertrag kam nach langen Verhandlungen mit der Regierung zustande und wurde unterzeichnet, unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Grossen Rat. Dieser wurde zu einer Extrasitzung einberufen, war aber nicht gleicher Meinung wie die Regierung. Er erklärte diesen Vertrag als unannehmbar. Damit war das Bestreben Weders, das auch das Meinige war, dem Kanton einen wichtigen Dienst zu leisten, dahingefallen. In dieser Grossratsitzung sind auch sehr unpassende Worte gefallen, über die sich meine Freuende, welche in der Gesellschaft waren (St. Galler, Glarner, Zürcher und Bündner), sehr erbittert äusserten. Sie waren der Meinung, ein Angebot von 2.000.000.- Franken, allerdings in dem jetzt bestehenden Konzessionsgebiet als Eigentum, sei kein «Judenpreis», wie ein einflussreicher Kantonsrat gesagt hatte, sondern ein loyales und rechtes Kaufangebot. Auch der Landammann war tief gekränkt über das Fehlschlagen des Verkaufes, der ihm als eine Sanierung der Staatsfinanzen erschienen war.
Nach Neujahr 1866, also volle vier Jahre später, kam von Seiten der Regierung plötzlich die Anfrage an mich, ob ich geneigt wäre, die Verkaufsverhandlungen der Domäne Ragaz-Pfäffers wieder aufzunehmen, auch dann, wenn eine Badeanstalt im Dorf erstellt würde. Für eine solche war ich von jeher eingenommen, also konnte diese Frage als erledigt betrachtet werden, und die Aussicht auf einen günstigen Kaufpreis war gesicherter als je.
Ich lehnte rundweg ab, obgleich einzelne Regierungsräte sich privatim bei mir bemühten. Aber ich wusste wohl, dass meine Freunde, die früher am Kauf teilnehmen wollten, heute, als vertagt, nichts mehr von einem solchen wissen wollten. Auch Herr Hauser zog sich ganz zurück. Überall hiess es: lieber nicht.
Im Spätsommer 1866 erstattete ich meinem Freund Dollfuss einen Besuch, der eine Badekur in Ragaz machte. Unter anderem sprachen wir von den Badeverhältnissen des Kurortes, über welche sich Herr Dollfuss ganz befriedigt ausdrückte. Ich erzählte ihm meine Erlebnisse bei dem versuchten Ankauf, von dem neuen Angebot und dass es schwer sein, wieder eine Gesellschaft zu finden. Hingegen könnte ich mich mit der Idee befreunden, z.B. mit ihm einen neuen Versuch zu machen, mit der Regierung einen Vertrag zu vereinbaren. Herr Dollfuss erklärte sich mit diesem Vorschlag vollkommen einverstanden. Die Regierung setzte ich von unserem Projekt in Kenntnis. Erfreut über dieses, veranstalteten sie eine Konferenz. Nach Schluss derselben konnten alle Anwesenden sich der Hoffnung hingeben, einen annehmbaren Abschluss zu erreichen. In einer folgenden Sitzung wurde der Vertrag Dollfuss-Simon über Abtretung der Domäne Ragaz-Pfäffers vereinbart und unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Grossen Rat unterzeichnet. Diese Genehmigung erfolgte dann auch am 28. März 1867. Es war zu unseren Gunsten eine Bedenkzeit von einem Jahr vorbehalten, und für diese Zeit mussten wir den Betreib und die Pacht der Domäne übernehmen. Den Hof Ragaz gaben wir für ein Jahr an die Herren Zehnder und Mäuli in Pacht. Das Bad Pfäffers wurde in Regie betrieben. Trotz der Bedenkzeit machte ich alle Pläne für die projektierte Bade- und Kuranstalt Ragaz. Zuerst den allgemeinen Situationsplan samt den in Aussicht zu nehmenden Abtrennungen von Privateigentum, über welche schon im voraus Verträge beschlossen werden konnten. Ebenso wurden über Lieferung von Baumaterialien schon im voraus Verträge abgeschlossen, um im gegebenen Moment nicht überfordert zu werden. Diese Verträge waren nur für die Verkäufer bindend; für uns war ein Vorbehalt gemacht worden.
Da keine Pläne über die alten Hochbauten Ragaz-Pfäffers vorhanden waren, liess ich diese durch meinen besten Gehilfen ausmessen und genaue Pläne darüber machen, die heute und für alle Zeiten wertvolle Unterlagen sind. Ich machte auch Vorbereitungen für den Beginn der Bauten im Frühjahr 1868. Herr Dollfuss aber beschäftigte sich damit, für dieses Unternehmen eine Gesellschaft zu gründen, mit Aussicht auf Gründergelder. Hiergegen protestierte ich bei jeder Gelegenheit, erklärend, ich würde keine Gründergelder geben, sondern den Vertrag loyal und getreulich erfüllen. Kaum acht Tage vor Ablauf der Bedenkzeit erklärte Herr Dollfuss seinen Rücktritt aus dem Vertrage mit der Begründung, er habe sein Vermögen nicht verdient, um es jetzt in die Tamina zu werfen. Obgleich ich vermuten durfte, dass sein Entschluss mit Besuchen bei gewissen Leuten zusammenhing, tat ich alle möglichen Schritte, ihn von seinem Entschluss abzubringen, aber vergebens. Gleichzeitig offerierte Herr Hauser für die Domäne Ragaz, aber ohne Bad Pfäffers, Quelle und Badstrasse, die Summe von 1.200.000 Franken. Doch sollte ihm der Staat das Thermalwasser nach der Domäne Ragaz liefern, und zwar unentgeltlich. Diese Offerte stand zweifellos mit dem Rücktritt von Herrn Dollfuss in Verbindung. Man rechnete, Simon werde allein diese grosse Vertragslast nicht tragen wollen, und so werde der Staat eine andere Offerte annehmen müssen. Auf meine Mitteilung über das zwischen mir und Dollfuss Geschehene veranstalte die Regierung eine Konferenz zwischen der Regierung, einer Grossratskommission und mir. Nach mehrtägigen Verhandlungen wurde der heute bestehende Vertrag über Erwerb der Domäne Ragaz-Pfäffers vereinbart und am 28.März 1868 vormittags unterzeichnet unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Grossen Rat. Am gleichen Tag, am 28. März 1868, wurde vom Grossen Rat der Vertrag Simon auch angenommen und die Offerte Hauser abgewiesen, obwohl dieser seinen Freunden im Grossen Rat - und deren hatte er ziemlich viele - eine Depesche geschickte hatte, er nehme den Vertrag Simon auch an. Das half aber nichts mehr.
Die Liste der annehmenden und verwerfenden Grossräte ist meinem Vertragsexemplar in Ragaz beigefügt. (die Akten über den Verkauf und die Unterhandlungen sind im Kantonsarchiv in St. Gallen, R.S.)
Nicht ohne vieles Nachdenken, nicht ohne viele Sorgen war ich nun Eigentümer der Domäne geworden. Es galt nun, diese Last mutig zu tragen.
Schon am 1. April 1868 begann ich mit den Arbeiten am Quellenhof und nacheinander mit allen übrigen projektierten Neubauten.
Es ging rasch vorwärts bis Ende Juli gleichen Jahres. Aber mit den Schicksalsmächten war auch da kein ewiger Bund zu schliessen. Elemente erhoben ihr Veto: ein fürchterlicher Wolkenbruch entleerte sich über das Taminatal, ein grosser Teil der Thermalwasserleitung und der Badstrasse wurde zerstört und grosse Unkosten verursacht. Rasch liess ich durch meine sehr zahlreiche Mannschaft (es arbeiteten bei mir etwa 600 Mann) den Schaden reparieren, und bald konnten die Bäder wieder mit Thermalwasser versorgt und die Badstrasse benützt und befahren werde.
Doch der Widerwärtigkeiten war noch kein Ende: im folgenden Oktober fand bekanntlich die grosse Rhein-Tamina-Überschwemmung statt. Wieder wurde die Wasserleitung samt Badstrasse zerstört, und auf Hilferuf hin musste ich mit dem Rest meiner Arbeiter, etwa 400 Mann stark, an den Rheinstrom eilen, wo die Hochfluten schon den Weg durch den Rosengarten, den Bahnhof und ins Untergelände eingeschlagen hatten. Retten, helfen, arbeiten war die gebieterische Pflicht.
Rasch ging ich ans Fällen der am linken Ufer der Tamina stehenden Bäume (Föhren), und ich liess einen nach dem andern in den grauenvollen Strom vorschieben. In weniger als einer halben Stunde erfolgte dadurch die Verwerfung der Fluten auf die Maienfelder Seite. Gleichzeitig entstand eine Öffnung durch Durchbruch des Eisenbahndammes links und rechts der Eisenbahnbrücke, nämlich an beiden Extremitäten derselben. Das war die sofortige Rettung des «Rosengartens» sowie der umliegenden Güter, und ebenso war die gefährdete Eisenbahnbrücke hierdurch ausser Gefahr. Der Verwaltungsrat der V.S.B. hat mir dann als Anerkennung meiner Rettungsarbeiten einen sehr schönen silbernen Aufsatz mit sinnvollen Ziselierungen geschenkt.
Nicht gleich dankbar waren einige durch die Überschwemmung bedrohten Leute, denen die Verleumdung gesagt worden war, ich hätte den Durchbruch des Dammes im Interesse der Eisenbahn persönlich wollen. Sollte man es glauben, dass sie mir lebensgefährlich drohten und dass ich mich zu weiteren Rettungsarbeiten an der Rheinbrücke von vier starken Männern begleiten lassen musste? Mir wurde damals der Dichter erst recht klar, wenn er sagt:

«Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, Verderblich ist des Tigers Zahn. Jedoch der schrecklichste der Schrecken, Das ist der Mensch in seinem Wahn.»

Lange hatte ich eine bittere Erinnerung an diese unverdiente Kränkung und konnte diese nur durch ein paar Lebensweisheiten loswerden.
Das waren keine angenehmen Tage für eine Kur in Ragaz. Die Grossfürstin Helen von Russland, die zum letzten Mal hier war für eine solche, reiste sofort von Ragaz ab und ebenso die anderen Gäste. Da dachte ich dann oft, ob nicht der neue Käufer nichts verstanden und ob nicht der Staat besser dran sei als ich; aber den Mut liess ich doch nicht sinken.
Mit den Arbeiten am Quellenhof ging es trotz diesen Störungen weiter, so dass mit Eintritt des Winters die Dachstühle aufgerichtet und gedeckt waren.
Im folgenden Winter wurde die Thermalquelle neu gefasst und in ein neuerstelltes Reservoir geleitet; von dort bis an den bestehenden Teilungshahnen wurde eine neue Leitung von starkem Eisenblech erstellt, 60 cm im Durchmesser, und tief im Felsen eingelassen. Diese sehr mühsame, schwierige und kostspielige Arbeit dauerte den ganzen Winter 1868/1869. Auch eine hölzerne Leitung bis nach Ragaz, welche tief in die Bergseite eingegraben wurde, war diese Winters Werk.
So hatte ich das erste Prüfungsjahr überstanden. Es folgten aber leider noch mehrere und schwerere und auch sehr empfindliche; ich war nicht grad auf Rosen gebettet.
An den Bauten der neuen Kuranstalten wurde auch eifrig gearbeitet in diesem Winter, so dass gegen Ende 1869 der Quellenhof und die Neubäder eröffnet werden konnten. Ende 1869 haben auch die übrigen einer Bauten die Vollendung erreicht.
Damals, sehr zufrieden mit dem Erfolg meiner Wirksamkeit und auch voll Hoffnungen auf ein gutes 1870er Jahr, entsprechend den ausserordentlichen Ausgaben und Lasten, erlitt ich eine weitere Enttäuschung; es sollte noch nicht sein.
Der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges und seine Folgen haben meine berechtigten Hoffnungen zerstört, denn dadurch war der Fremdenbesuch und dessen Zufluss kein grosser, und die Betriebsergebnisse boten eine magere Ernte.
Unterdessen hatte unser Land und dadurch auch Ragaz einen anderen Besuch: Die Bourbakiarmee rückte in die Schweiz ein, wurde von unseren Truppen entwaffnet und in die verschiedenen Kantone und Gemeinden verteilt und auf das Beste verpflegt. So erhielt das St. Galler Oberland eine ziemliche Anzahl Franzosen. Mein Schwimmbad, das damals gerade fertig war, hatte für deren Reinlichkeit zu sorgen und wurde in Abteilungen von je hundert Mann besucht. Es wurde ihnen dann frische Wäsche und nach dem Bad im Hof Ragaz ein gutes Mittagessen gegeben - dies alle 14 Tage. Dies geschah von mir unentgeltlich. Frankreich wird die Verpflegung seiner Mannschaften in guter Erinnerung behalten.
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