Der entwerfende Schweizer Ingenieur: Robert Maillart, Christian Menn und Jürg Conzett

Von Tom F. Peters

1. Textteil

Jedes Bauwerk besitzt eine Ahnentafel. Der schöpferische Mensch steht nie isoliert. Isaac Newton, einer der Begründer der modernen Physik, formulierte dies vor drei Jahrhunderten treffend: Er sehe nur darum weiter als andere, weil er auf den Schultern von Riesen stehe. Hinter jedem innovativen Bauwerk also steckt eine Welt voller Vorbilder und Gedanken. Beim Traversinersteg beispielsweise, der 1996 nach Plänen des Ingenieurs Jürg Conzett erbaut worden ist, reicht diese Welt von den gewagten unterspannten Eisenbahnbrücken Albert Finks 1850 in den USA, den räumlichen Fachwerktürmen Alexander Graham Bells um 1900 in Kanada oder den abstrakten Tensegrity-Entwürfen 1930 von Buckminster Fuller zu den akademischen Ausbildungssystemen von Karl Culmann, Wilhelm Ritter oder Pierre Lardy.
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1. Traversinersteg in der Viamala von Jürg Conzett 1996 (1999 durch Steinschlag zerstört). Die Unterspannung erinnert an die amerikanischen Brücken von Albert Fink um 1850, das räumliche Fachwerk an die Stahltürme Alexander Graham Bells in Kanada um 1900 und das Spiel von Druckstäben und Zugseilen an die Tensegrity Arbeiten Buckminster Fullers aus 1930. Jedes innovative Ingenieurbauwerk ist in einem reichen kulturellen Hintergrund gebettet.
Einen solchen Hintergrund nennen wir eine Denkschule. Denn wie man unter den zahllosen möglichen Vorbildern eine sinnvolle Auswahl trifft und wie man diese gewichtet, geschieht im Lernprozess und überträgt sich vom Lehrer auf den Studenten. Das Ingenieurbauwesen in der Schweiz besitzt eine lebendige Tradition im Entwurfsdenken, die sich über Generationen gewandelt hat und noch heute interessante Bauwerke hervorbringt. Wie es zu dieser Tradition kam, lässt sich aus der Entwicklung der Baukultur erklären.
Vor der Industriellen Revolution waren alle Bautätigkeiten in einem einzigen Beruf , dem des Baumeisters, vereint. Im 18. Jahrhundert begann eine Aufsplitterung, und es entstand ein loser Verband von Berufszweigen mit oft widersprüchlichen Zielsetzungen. Ulrich Pfammatter hat diese Entwicklung in seinem Buch "Die Entstehung des modernen Architekten" erläutert.
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2. RhB-Brücke über die Landquart in Klosters von Robert Maillart 1930 (später ersetzt). Obwohl diese Brücke in der Brückengeschichte als ingenieurmässige Hochleistung eingegangen ist und zahlreiche Nachbildungen beeinflusst hat, blieb sie an ihrem Standort in Klosters unbeachtet. Somit verlor das Dorf ihr einziges, international bekanntes Monument.
Die Schweiz blieb von dieser Aufsplitterung der Berufszweige etwas verschont. Dank ihrer pädagogischen Anlehnung an die Ideen der Ecole Centrale in Paris bildete das Eidgenössische Polytechnikum, die spätere ETH, ihre Bauingenieure etwas "bauplatznäher" aus und ihre Architekten erhielten eine gründlichere technische Grundausbildung als in anderen Ländern. Der Berufsverband SIA (Schweizerische Ingenieur-und Architektenverein) förderte den Kontakt zwischen beiden Berufen, denn als weltweit einziger Verband spaltete er sich nicht in eine Architekten- und eine Bauingenieur-Richtung auf. Zwar entwickelten sich auch in der Schweiz die Berufe auseinander, jedoch bot sich dank der ETH und dem SIA mehr Kontaktfläche an als anderswo.
Die bergige Topographie der Schweiz stellte die Ingenieure vor besondere Herausforderungen. Die Vielfalt von geographischen und kulturellen Bedingungen machte aus der Schweiz eine Drehscheibe für europäische Kulturströmungen - auch technischer Art. Wie die Beneluxländer, Elsass-Lothringen, Tirol und Friaul gehörte sie zu den fruchtbaren europäischen Kultursaumzonen, und das Land war gross und selbstständig genug, um eine eigene multikulturelle und vielsprachige Einheit zu bilden. Darin eingeschlossen war Graubünden, das als Bergkanton mit drei Sprachen immer eine besonders aktive Region war.
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3. Landquartbrücke bei Dalvazza von Johann Solca 1930 (später abgebrochen). Im Längsschnitt offenbart diese Brücke ihr innovatives Hohlkastensystem, in der Ansicht jedoch bliebt diese überraschende Neuigkeit ohne formale Folgen.
Die Besonderheiten einer Sprache beeinflussen die abstrakte Konzeptbildung. Zum Beispiel kennzeichnen die deutschen Worte "Platte" und "Scheibe" die statische Wirkungsweise, aber nicht die räumliche Lage von ebenen Flächentragwerken. Eine "Platte" nimmt die Kräfte von ausserhalb der Fläche auf und wird vor allem auf Biegung beansprucht, eine "Scheibe" leitet die Kräfte in der Ebene ab und muss Schubspannungen widerstehen. Nicht so im englischen, wo "plate" und "slab" die Lage im Raum und die konstruktive Ausbildung beschreiben, nicht aber das statische Verhalten. Beides sind horizontale Platten, die eine mit und die andere ohne Unterzüge. Auf Englisch kann man die schräge Tragwerksfläche nur umschreiben. Die Lage-Unabhängigheit der deutschen Begriffe begünstigte die Entstehung von Robert Maillarts Brückentypen, weil die Sprache es ihm konzeptuell erleichterte, seine Ebenen im Raum auch schief anzuordnen. Hätte er auf englisch gedacht, wäre die Entwicklung seiner Stabbogenbrücken wesentlich erschwert gewesen. Das in der Schweiz notwendige Übersetzen technischer und entwerferischer Gedankengänge begünstigte eine konzeptuelle Vielschichtigkeit.
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4a. Salginatobelbrücke von Robert Maillart 1930. Die Plattenbauweise, der offene Hohlkasten und die sparsame Ansicht, die man als Dreigelenkbogen oder als zwei sich in der Mitte treffende Kragarme interpretieren kann, offenbart die formale Beschäftigung des Meisters, der bestrebt war, seine konstruktive Gedanken jedem sichtbar und verständlich zu machen.
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4b. Salginatobelbrücke von Robert Maillart, 1930, Zeichnung
Die Ingenieurtheoretiker Karl Culmann und Wilhelm Ritter begünstigten weiter die Bildung einer schweizerischen Denkschule, indem sie die visuell betonte Bauingenieur-Tradition in die neue, analytische Welt überführten. Culmann gründete 1854 am Polytechnikum die Bauabteilung und schuf die grafische Statik. Ritter erweiterte ab 1881 seine Theorien und machte sie den Praktikern zugänglich. Die Leiter der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt EMPA wirkten dann im beginnenden 20. Jahrhundert mit, die Denkschule durch ausgeführte Bauwerke zu stärken. Da ist besonders der dritte Direktor, Mirko Roš, zu nennen, dessen empirisch begründete Prüfverfahren für theoretisch schwer zu erfassende Konstruktionen, den monolithischen Eisenbetonbau von Robert Maillart, Max Greuter, Alexandre und Robert Sarrasin und vielen anderen zum Durchbruch verhalf.
Der Pädagoge Pierre Lardy unterstrich die Bedeutung der Strukturform in seinen Vorlesungen und bildete im mittleren 20. Jahrhundert drei für die weitere Entwicklung dieses "Schweizermodells" wichtige Ingenieure aus: Heinz Isler, Christian Menn und Hans Hauri. Hauri betätigte sich wie Lardy hauptsächlich als Pädagoge. Seine Stärke lag in der Veranschaulichung des Kräfteverlaufs durch Modelle. Das visuelle Denken dieser zwei hervorragenden Lehrer lebt in den Bauten ihrer Studenten weiter. Isler betätigt sich als Praktiker und Experimentalist und schafft damit neue Vorbilder. Menn gibt seine Denkweise in seinen eigenen Bauten und in denjenigen seiner Studenten weitergibt.
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5a: Drei frühe Brücken von Christian Menn: die Hinterrheinbrücke von Crestawald 1958, die Averserrheinbrücke bei Letziwald 1959 und die Valserrheinbrücke 1962. Sie bauen alle auf Entwurfsgedanken von Maillart auf und erreichen, durch die Verwendung von Spannbeton, eine noch grössere Sparsamkeit. Der Ingenieur erweitert damit die Grenzen der Optimierung der Konstruktion.
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5b. Averserrheinbrücke bei Letziwald, 1959
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5c. Valserrheinbrücke, 1962
Diese bauliche Denkkultur entwickelte sich parallel zu einer nüchternen, grafischen Schule, die in internationalen Zeitschriften wie Walter Herdegs "Graphis" zum Ausdruck kam. Diese Zeitschrift verbreitete das Bewusstsein einer Kultur des schlichten technischen Entwurfs als eine schweizerische Eigenart. Die Bewunderung des Theoretikers Fritz Stüssi für die amerikanischen Brückenbauten Othmar Ammanns ebenso wie die Hochachtung des Architekten Max Bill und des Architekturhistorikers Sigfried Giedion für die Bauwerke von Robert Maillart liessen gleichzeitig dafür ein historisches Bewusstsein entstehen. Vor allem wirkten Bill und Giedion durch ihre publizistische Tätigkeit weit über die Landesgrenzen hinaus. Der Erfolg dieser "Neuen Sachlichkeit" technologischer Prägung schlug sich zum Beispiel 1949 in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York nieder und später in Schriften von David Billington. Die vielen Befürworter des schweizerischen Denkens erhoben einzelne Ingenieure, vor allem Brückenbauer wie Amman und Maillart, zu Vorbildern und stellten die Entwicklungsgeschichte des Ingenieurbaus als zwangsläufigen, positivistischen Ablauf dar.
Eine zu starke Vereinfachung von Entwicklungen betont Resultate und vernachlässigt den Prozess der Problemlösung. Aber es sind doch gerade die intellektuelle Qualitäten des Denkprozesses, die das Interessante an einer Denkschule ausmachen.
Im Gegensatz zum Ausland wurde in der Schweiz selbst die Betonung von Einzelleistungen als übertrieben wahrgenommen, und diese Vorbilder wurden weniger hochgespielt. Vielleicht geschah dies, weil man die Urheber persönlich kannte oder weil durch deren Hervorhebung anders geartete, aber ebenbürtige Leistungen vernachlässigt wurden. Maillarts international gefeierte, nun verschwundene RhB-Brücke in Klosters, war der Lokalbevölkerung als Kunstwerk gänzlich unbekannt; die Brücken und Staudämme der Gebrüder Sarrasin, die Bauwerke von Heinz Hossdorf oder die amerikanischen Staudämme von Alfred Nötzli sind Bauten, die man nur, wenn überhaupt, unter Fachleuten kennt. Ebenso verschwiegen blieben die Namen der ersten drei Leiter der EMPA (Eidgenössische Materialprüfungs-und Versuchsanstalt), der Ingenieure Ludwig von Tetmajer, François Schüle und Mirko Roš, welche das innovative Denken durch ihre Gutachten und experimentelle Prüftätigkeit unterstützten.
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6. Ganterbrücke auf der Simplonstrasse von Christian Menn 1982. Die Zugseile, die der Kragkonstruktionsweise dienten, sind in den seitlichen “Wangen” eingebettet. Sie machen das formal Überraschende an dieser Konstruktion aus. Die Erklärung der Form bezieht sich jedoch auf eine Umkehrung der Form von Maillarts Tavanasabrücke aus dem Jahr 1905. So frei verfährt der schöpferische Ingenieur mit seinen Vorbildern.
Auch wenn hierzulande die Vertreter der schweizerischen Tradition nicht wie im Ausland würdigte, verfestigte sich doch über die Jahre eine durchschlagkräftige Denkweise, die sich in den Lehrprogrammen niederschlug. Die seit jeher übliche Auswanderung von Fachleuten trug die Denkschule in die Welt hinaus. Culmann beriet die türkische Eisenbahn, Ammann und Nötzli bauten in Amerika, Maillart in Russland und Hossdorf in Spanien. Damit soll aber keineswegs behauptet werden, dass alles Gute im Bauwesen aus der Schweiz stammt! Auch andere bauten selbstverständlich hervorragende Ingenieurbauten. Man denke an die Werke von Vladimir G. Suchov in Russland, Pier Luigi Nervi, Giorgio Morandi und Angelo Mangiarotti in Italien, Ove Arup in England, Felix Baumgart in Brasilien, Eduardo Torroja in Spanien, Eladio Dieste in Uruguay oder Felix Candela in Mexiko. Zum Teil wurden diese von der schweizerischen Entwicklung beeinflusst, aber sie beeinflussten ihrerseits auch die Entwicklung in der Schweiz. Die Fähigkeit, neuartige und technologiegerechte Strukturen zu entwickeln, ist nicht auf eine Kultur beschränkt, und es sind anderswo auch andere Einflüsse am Werk.
Aber gerade eine Stärke der schweizerischen Tradition liegt im Bestreben, eine schleichende Verhärtung des Denkens zu einem kanonischen System entgegenzuwirken.. Da hilft beispielsweise die Tatsache, dass Normen in der Schweiz beratenden und nicht wie in anderen Ländern Gesetzescharakter besitzen. Das begünstigt die Übernahme von Eigenverantwortung durch den Entwerfer und fördert damit den Entwurf von innovativen Bauwerken.
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7a. Tavanasabrücke von Robert Maillart 1905 (Bild links). Bei dieser Brücke öffnete Maillart erstmals den Hohlkastenträger, indem er die Seitenwände weitgehend entfernte. Somit erklärte er, wie die Brücke gebaut ist, und jeder versteht, dass sie kein traditioneller Steinbogen sein kann.
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7b. Die Abbildung der Gantnerbrücke (Bild rechts) auf dem Kopf verdeutlicht die Erklärung der Form als Umkehrung der Tragstruktur von Maillarts Tavanasabrücke.
Damit eine Tradition der Innovation dient, muss sie anpassbar bleiben. Christian Menn, Heinz Hossdorf und Heinz Isler entwickelten Maillarts Prinzipien weiter, jeder in seiner eigenen Richtung. Weitere, jüngste Abwandlungen dieser Prinzipien machen sich in den Arbeiten von Santiago Calatrava und Jürg Conzett bemerkbar. Beide machen Gebrauch von formalen Kriterien, die der traditionsreichen, streng technologisch ausgerichteten Denkschule fremd sind. Und doch besteht rückblickend auch dafür in den Arbeiten Maillarts ein potenzielles Vorbild. Denn vergleichen wir Maillarts Brücken mit denjenigen seiner Zeitgenossen, so sehen wir, dass bei ihm formale Kriterien eine prägende Rolle spielten.
Vergleicht man als Beispiel den Längsschnitt der alten Landquartbrücke auf der Kantonsstrasse bei Dalvazza des Kantonsbaumeisters Johann Solca aus dem Jahre 1930 mit gleichzeitigen Brückenprojekten von Maillart, so sieht man, dass ihre Struktur, obwohl sie ganz anders konzipiert ist, ebenso überzeugend den monolithischen Charakter des Stahlbetons manifestiert. Die mittleren, scheibenförmigen Streben bilden mit der Fahrbahnplatte, den Schildwänden und der unteren Bogenscheibe ein vierteiliges Hohlkastensystem. Vergleicht man aber die Ansicht dieser Brücke, an der von alldem gar nichts sichtbar ist, mit der Salginatobelbrücke von Maillart, so ist in allen Details der überragende formale Gestaltungswille des Meisters deutlich. Maillarts Formempfinden stand immer im Dienst vom Ausdruck der Tragweise. Dieses Anliegen beschäftigt auch die Vertreter der nachfolgenden Ingenieur-Generationen aber mit etwas abweichenden Zielsetzungen.
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8. Oben die Viamalabrücke der Nationalstrasse A13 von Ingenieur Christian Menn erbaut 1966-1967; unten der Pùnt da Suransuns als Teil des Fussgängerwegs durch die Viamala von Ingenieur Jürg Conzett erbaut 1999.
Christian Menn und Jürg Conzett sind zwei international anerkannte Meister des Brückenbaus, die stellvertretend für die zwei "post-Maillartschen" Generationen stehen können. Beide entwickeln ihre konstruktiven Entwürfe aus statischen Tragweisen und zum Teil auch aus historischen Beispielen. Wie Menn 1982 erklärte, versuchte er bei der Ganterbrücke ein Problem zu lösen, das beim Bau des Felsenauviadukts einige Jahre zuvor aufgetreten war. Es ging ihm darum, eine günstigere Aufhängung seiner Vorspannkabel für den Freivorbau zu finden. Er entschloss sich deshalb, statt sie über die Pfeiler nach unten zu ziehen, sie an den Pfeilern aufzuhängen. Der ökonomische Einsatz konstruktiver Mittel ist eines der Merkmale dieser Denkschule. Daneben erklärte er die Traditionsverbundenheit seiner neuen Form mit einer Umkehrung der Tragstruktur von Maillarts Tavanasabrücke aus dem Jahr 1905. Obwohl Menn seine Brücke nicht so entwarf, zeigt diese überraschende Erklärung, wie ein traditionsbewusster Entwerfer mit Vorbildern umgeht.
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9a. Pùnt da Suransuns von Jürg Conzett 2000. Diese Bandbrücke nützt auf raffinierte Art die hervorragende Druckfestigkeit des Granits aus Andeer und die Zugfestigkeit der darunter liegenden Stahlbänder aus. Dadurch entstand ein äusserst sparsamer, umgekehrter Steinbogen als Hängebrücke, die eine Idee von Hossdorf auf neue Weise interpretiert.
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9b. Pùnt da Suransuns, von vorn
Durch die gedankliche Umkehrung eines Objektes sieht man es anders. Die Inversion der Schwerkraft zur Erklärung von Form oder Tragweise ist im Bauwesen ein bekannter Kunstgriff. Der Architekt benutzt sie als Entwurfsstrategie, der Ingenieur scheint sie vor allem zur Erklärung zu gebrauchen. Aber nicht ausschliesslich, denn Jürg Conzett brauchte sie als Entwurfsstrategie für seinen Punt da Suransuns und machte aus einem sehr flachen Steinbogen einen Hängesteg. Dabei bezieht er sich technisch auf einen Vorschlag für eine vorgespannte Steinbrücke für die Schöllenenschlucht aus dem Jahr 1954 von Heinz Hossdorf. So ausgefallen die Idee einer Verbundkonstruktion aus Stein erscheinen mag, besitzt auch sie eine lange Vorgeschichte, derer Wurzeln sich Conzett bewusst bediente.
Trotz einigen Abweichungen gleichen sich Menn und Conzett in der Art, wie sie ihre Mittel ökonomisch einsetzen und ihre Traditionsverbundenheit nützen. Doch hinsichtlich Oekonomie geht Menn etwas weiter. In seinem Frühwerk entwarf er Brücken mit Flächentragwerken, wie es Maillart getan hatte. Aber durch die Verwendung des neuen Materials Spannbeton und durch die rigorose Vereinfachung des Bauprozesses erzielte er eine noch grössere Wirtschaftlichkeit der Bauwerke. Maillarts Wettbewerbserfolge waren vor allem auch darin begründet, dass seine Projekte die günstigste Ausführung ermöglichten. Menn hat dieses Prinzip weitergetrieben. Von allen Vertretern der Denkschule verkörpern seine Werke die Ökonomie der Mittel und auch die Ökonomie der Form wohl am konsequentesten.
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10. Unausgeführter Entwurf einer Steinbrücke für die Schöllenenschlucht von Heinz Hossdorf 1954. Der Ingenieur schlägt vor, den Stein mit Stahlarmierungen vorzuspannen, um eine Konstruktion zu erzielen, die beide Materialien voll ausnützt und eine leichte, elegante Brücke ermöglicht.
Die Formensprache Conzetts stützt sich weniger stark auf die Optimierung der strukturellen und visuellen Form ab, sondern beschäftigt sich auch mit formtheoretischen Problemen. Damit leistet Conzett einen Beitrag zur Überwindung der traditionellen Spaltung zwischen Ingenieur und Architekt. Im Fall der Peidenbad Brücke scheint die Form aus folgende Überlegungen entstanden zu sein: Als Student beschäftigte sich Conzett intensiv mit den Lehrgerüsten von Richard Coray. Er fand es bedauerlich, dass Corays begeisternde Konstruktionen temporärer Natur waren und dass sie ausser in Fotografien der Nachwelt nicht weiter erhalten blieben. Aus dieser Beschäftigung entstand 1985 ein Kapitel über Corays Arbeiten im Buch "Fünf Schweizer Brückenbauer". "Ich gäbe viel darum," schrieb er damals, "einmal eines jener eindrucksvollen Gebilde, die der bescheidene Trinser Zimmermeister Richard Coray in seinem Leben erstellt hat, mit eigenen Augen sehen zu können". 18 Jahre später reagierte er auf diesen Wunsch indem er selber eine entsprechende Form schuf.
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10: Peidenbadbrücke von Jürg Conzett 2004. Der Holzunterbau versteift die dünne Betonfahrbahn. Die Fahrbahn schützt das Holz. Die Bauweise auf einem Lehrgerüst wird Teil der permanenten Form der Brücke. Dadurch bleibt der Bauprozess im fertigen Werk sichtbar.
Conzetts Überlegungen laufen hier auf die Darstellung des vergänglichen Bauprozesses in permanenter Form hinaus. Sie ist eine neue Spielart der historischen Vernetzung des Ingenieurentwurfs, denn das Lehrgerüst der Peidener Brücke ist visuell Teil der permanenten Konstruktion. Gleichzeitig unterstreicht die funktionelle Abhängigkeit der Holz- und Betonteile den Sinn dieses ungewöhnlichen Entwurfs. Der Betonüberbau schützt das darunter liegende Holz vor Verwitterung während die Holzstreben die darüber liegende Fahrbahn gegen Torsion versteifen.
Menn reagierte auf ganz anderer Weise auf Corays Vorbilder, in erster Linie nicht visuell sondern konzeptuell. Er erkannte in den Lehrgerüsten Corays eine Hochleistung der Bauoptimierung und versuchte den Geist dieser Hochleistung nachzuempfinden. Menns Brückenentwurf waren jahrzehntelang, wie er selber sagt, vom Bedürfnis getrieben, die temporäre Konstruktion des Lehrgerüsts zu optimieren und die Kosten der vergänglichen zugunsten der permanenten Teile seiner Brücken zu senken. Dadurch verfeinerte e , was Maillart etwa fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte.
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11. Die vollendete Salginatobelbrücke anfangs August 1930 vor der Absenkung des fächerförmigen Lehrgerüsts von Richard Coray.
Innovative Entwerfer zwingen uns, beim Betrachten ihrer Werke einen Lernprozess durchzumachen. Wir müssen lernen, solche Systeme auf neuer Art zu sehen. Bei Menn erkennen wir die Sparsamkeit und staunen, dass solch sparsame Werke überhaupt stehen können. Bei Conzett bestaunen wir die Überlagerungen und Mischsysteme. Er zwingt uns, in unserem Denken Massstabs- oder Materialverschiebungen einzubauen. Bei diesen Werken müssen wir unsere überlieferten Konzepte von reinen Tragsystemen aufgeben und unser Verständnis von dem, was ein System ausmacht, erweitern. Dieser Umstand liefert uns den treffendsten Beweis dafür, dass die schweizerische Denkschule im Bauwesen gedeiht und sich heute noch weiterentwickelt.
Tom F. Peters
Informationen zum Autor: Link auf die Rubrik Autoren

Der vorliegende Text wurde bereits veröffentlicht in: Bündner Monatsblatt 4/2004, S. 225-245.
Bündner Monatsblatt, Zeitschrift für Bündner Geschichte, Landeskunde und Baukultur. Verlag Bündner Monatsblatt, Chur ISSN 1011-6885
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